Als ich erkannte, dass mir die Zeit gestohlen wurde…

Bild: Carparelli Fotografie

Die Anfangszeit als Mutter war eine der furchtbarsten Zeiten meines Lebens. Zwar war ich gesegnet mit einem gesunden Kind, doch die Umstände und mein inneres Erleben verschleierten die Freude darüber für lange, lange Zeit. Erst Jahre später bringt ein weiteres einschneidendes Erlebnis das Ausmaß dessen ans Licht.

Die ersten Monate mit meinem Erstgeborenen waren belastet durch den Schrecken einer traumatischen Geburt und meiner postpartalen Depression. Zudem (oder deshalb?) war mein Sohn ein Schreibaby und ich von all dem heillos überfordert. Es war ein zäher Kampf, ehe das Stillen klappte, ich wünschte mir mit aller Macht mein altes Leben zurück, fühlte mich unverstanden und allein gelassen. Mein eigenes Entwicklungstrauma wurde massiv angetriggert, nur wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nichts davon. Obendrauf kam die toxische und extrem kräftezehrende Beziehung zu meiner Mutter und mein krampfhafter Versuch mit Kind weiter zu studieren. Kurzum: es war die Hölle und ich im Überlebensmodus. Die Devise war: durchhalten um jeden Preis. Aushalten. Funktionieren. Wie schwierig diese Zeit für den Aufbau einer Beziehung zu meinem Sohn war, habe ich hier beschrieben. Was sie mir genommen hat, verstand ich erst viele Jahre später.

Als ich mit meiner Tochter schwanger wurde, wusste ich um meine traumatische Vergangenheit. Ich hatte viel verstanden und einiges an Traumaarbeit geleistet. Mir wurde klar, dass ich diese Geburt sorgfältig vorbereiten wollte, um nicht wieder in den Überlebensmodus zu rutschen.

Vorbereitung ist alles

Zu allererst suchte ich mir ein Geburtssetting außerhalb des Krankenhauses. In einem Geburtshaus fühlte ich mich von Anfang an sicher und geborgen. In den Monaten der Schwangerschaft gelang es mir meine erste Geburt mit unterschiedlichen Therapeuten aufzuarbeiten. Ich lernte und übte Methoden, um mich zu beruhigen, mich zu stärken, im Hier und Jetzt bleiben zu können. Ich sorgte für eine Umgebung, in der ich mich gesehen, verstanden und sicher fühlte. Ich tat alles in meiner Macht stehende, um die Weichen für unseren Familienstart 2.0 zu stellen…mit Erfolg.

Geburt 2.0

Die Geburt meiner Tochter war zwar genauso schmerzhaft, dafür aber um Welten anders als die meines Sohnes. Ich wurde feinfühlig begleitet bei einem Geburtsprozess, den ich aktiv mitgestalten und annehmen konnte. Der Beziehungsaufbau zu meinem Kind verlief genauso intuitiv, fließend und selbstverständlich, wie das Stillen. Durch die Erfahrung der letzten Jahre rief es weitaus weniger Unsicherheit auf den Plan, dass auch mein zweites Kind viel getragen werden wollte und stundenlange Einschlafbegleitung am Abend brauchte. Es lief nicht alles glatt, aber insgesamt erlebte ich mich als kompetent im Umgang mit meinem Baby.

Nach dem ersten „High“, folgte jedoch schnell eine gewisse Schwere auf dem Herzen. Ich war sofort alarmiert, schließlich ist die Wahrscheinlichkeit eine postpartale Depression zu entwickeln erhöht, wenn man bereits eine erlebt hat.


Ich entdeckte so viele Dinge im Alltag mit meinem Baby, von denen ich bislang nur gehört oder gelesen hatte. Hungerzeichen beispielsweise: Ich bemerkte sie bei meiner Tochter und konnte sie anlegen, bevor sie anfangen musste sich lautstark mitzuteilen. Oder ein entspannter Plausch mit anderen Mamas, während mein Kind friedlich an mir döst. Die ganzen Meilensteine, von denen es im ersten Jahr so viele gibt. Immer wieder dachte ich: Ach, so war das für die anderen! So kann es auch sein.

Spätes Erkennen

Viele Eltern sagten mir, dass sie das Babyjahr des zweiten Kindes viel weniger intensiv erlebt haben als beim ersten. Ich konnte vieles beim zweiten Mal überhaupt erst er-leben, statt über-leben. Das war sehr heilsam, ließ mich aber auch erkennen, was ich alles mit meinem Sohn verpasst hatte. Diese Realisation löste zum einen heftige Schuldgefühle ihm gegenüber aus (#kPTBS). Zum anderen große Trauer. Nun, da ich erlebte wie es hätte sein können, fühlte ich den ganzen Schmerz dies vorher nie gekannt zu haben. Und ja auch nie nachholen zu können. So manches Mal wünschte ich mir, ich könnte die Zeit zurück drehen.

Und doch musste ich mir eingestehen, dass nur mein Wissen und die Erfahrung von heute, damals einen Unterschied hätten machen können. Und beides hätte ich nie gehabt ohne eben diese Erlebnisse. Und so begleitet die Trauer mich auch heute noch und das ist okay. Denn es ist traurig, dass wir keinen behüteten Start ins Familienleben hatten. Es ist schmerzhaft zu erkennen, nur funktioniert und diese Lebenszeit auf gewisse Art und Weise für immer verloren zu haben. Stattdessen die Narben aus dieser Zeit zu tragen, die immer wieder aufbrechen, sowohl bei mir, als auch bei meinem Sohn.

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern

Stattdessen hoffe ich, dass mir die Reflexion des Erlebten dabei hilft zu verstehen, was da warum passiert ist und auch heute noch passiert in mir, in meinem Kind. All diese Erfahrungen anzunehmen und in mein Selbst und meine Lebensgeschichte zu integrieren. Und um dem Schrecken Sinn zu verleihen. Damit ich jemandem, der mir anvertraut, wie schlimm es ist sein Baby so viel schreien zu hören, niemals gleichgültig antworte mit „Babys schreien halt manchmal“. Sondern mitfühlend nicke und sage: „Das ist furchtbar. Ich weiß, wovon du sprichst.“

Genauso, wie es dann hoffentlich leichter wird auch mir und meinem Sohn gegenüber mitfühlend zu sein, wenn wieder alte Wunden drücken – und zu sagen: „Das war furchtbar. Ich weiß wovon du sprichst.“

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