
„Der Mutterinstinkt wird dich leiten“, hatte ich gelesen. „Sobald dein Kind in deinen Armen liegt, ist alles vergessen und du wirst die unbändige Mutterliebe in dir spüren.“
Dann kamst du, mein erstes Kind. Doch in mir war keine Liebe. Da war nur Schrecken, von der unmenschlichen Behandlung unter der Geburt, von der Hilflosigkeit in der ich allein gelassen wurde, von den Schmerzen, die mich übermannt hatten. Und eine himmelhohe Erleichterung darüber es überstanden zu haben. Irgendwie. Überlebt. Da waren keine zauberhaft aufregenden ersten Male. Da war Verantwortungsbewusstsein- Gott sei Dank! Aber keine Liebe. Keine Verbindung.
Das hast du gespürt. Mit deinen feinen Antennen. Auch du musst furchtbar erschrocken gewesen sein auf so schreckliche Weise auf diese Welt zu kommen. Mit so viel Angst und so wenig Mitgefühl. Alles neu, viel zu viel für so ein kleines Geschöpf. Ohne Liebe. Ohne Verbindung. Und darum hast du geschrien. Ohrenbetäubend laut. Nervenzerreißend lange. Trotz Wiegen und Singen. Trotz Tragen und Schaukeln. Trotz Bauchmassagen und Kümmelsalbe. Trotz Osteopathie und Schreiambulanz.
Lange habe ich nur funktioniert, konnte nicht spüren, was dir fehlt. Denn letztendlich konnte ich gar nichts spüren. Außer diesem großen Verlangen nach meinem alten Leben ohne diese überbordende Verantwortung. Und irgendwann eine unheimliche Wut auf dieses kleine Wesen, das auf einmal mein ganzes Leben dirigierte. Das forderte und forderte und doch nie zufrieden war. Das mir jeden Tag meine Unfähigkeit vorzuhalten schien.
Meine postpartale Depression hielt mich gefangen in einem Kreislauf aus Scham, Schuldgefühlen und schierer Verzweiflung. Zum Glück hatte meine Psychotherapeutin im Vorfeld gewarnt, dass es dazu kommen könnte. 10–15 % der Frauen entwickeln nach einer Geburt eine Wochenbettdepression. Gab es zu anderen Zeitpunkten schonmal depressive Verstimmungen, steigt das Erkrankungsrisiko.* Meine Therapeutin hatte mir aufgetragen meinem Mann die Zeichen zu nennen auf die er achten solle: starke Stimmungsschwankungen, ausgeprägte Zweifel und Versagensängste als Mutter, übermäßige Sorge ums Wohl des Kindes, Emotionale Taubheit oder Probleme positive Gefühle dem Kind gegenüber zu entwickeln.
Als es dann soweit war, konnte ich selbst es nicht sehen. Aber mein Mann konnte es. Er bat mich zu handeln. Er redete und argumentierte. Erst als er mir vor Augen führte, wie stark mein Verhalten sich ändert im Umgang mit meinem Sohn, drang er zu mir durch. Für einen Augenblick lüftete sich die Depressionsbrille und ich konnte mich durch die Augen meines Babys sehen- und erschrak.
Mit sehr viel therapeutischer und innerer Arbeit, eigener Recherche zum geborgenen, bindungsorientierten Umgang mit Kindern, Liebe und Zeit gelang es mir die Depression abzuschütteln. Zum ersten Mal konnte ich erkennen, was für ein wundervolles Geschenk in meinen Armen lag. Endlich spürte ich sie, diese Mutterliebe. Seitdem wuchs sie Tag für Tag. Ein Band der Verbindung wob sich zwischen meinem Kind und mir.
Noch immer waren die Tage und Nächte unheimlich fordernd. So viel Nähe war nötig. So viel Stillen. So viel Kuscheln. So viel Beruhigen, Singen, Wiegen und Tragen. Noch immer konnte ich so manches Mal vor Verzweiflung schreien, wenn sich die Einschlafbegleitung zog wie Kaugummi. Oder nach stundenlangem Hüpfen auf dem Gymnastikball mit dir schlafend in der Trage der Rücken schmerzte. Doch endlich konntest du aufhören zu schreien. Denn du wurdest gehört.
Etwas ist dennoch geblieben: die Unsicherheit der ersten Monate. Die Angst ungehört zu bleiben und der Schmerz darüber die Liebe deiner Mutter entbehren zu müssen. Denn seitdem sah ich, wann immer ich stolperte – über meine hohen Ansprüche, die Hürden des Elternseins oder mein eigenes emotionales Gepäck- kamst auch du ins Straucheln. Doch wir fingen uns immer wieder und liefen weiter.
Jahre später kam deine Schwester, mein zweites Kind. Und erst schien alles so wundervoll. Wieder begegneten mir Angst, Hilflosigkeit und Schmerzen unter der Geburt, doch diesmal mit einfühlsamer Begleitung. Als ich dieses Kind in den Armen hielt, füllte sich mein Herz mit einer unendlich großen Liebe. Und es formte sich in den Tagen und Wochen danach Verbindung.
Am Tag der Geburt sahst du deine Schwester zum ersten Mal zu Hause, wie sie in meinen Armen im Bett lag. Ganz behutsam bist du näher gekrochen und hast sie begrüßt. Ein kleiner Moment des Zaubers. Voller Verheißung auf Familienglück. Doch nun war da jemand anderes, der viel Nähe, Geborgenheit und Liebe brauchte. In dir wurde die alte Unsicherheit geweckt. Das Schreien begann erneut. Und mit ihm auch das Wüten. Die Raserei.
Nicht nur bei dir. Auch in mir erwachte etwas, das mich immer stärker mitriss in die Rage. Etwas, das mich dich wegstoßen ließ. Dass mir die Sicht auf dein wunderbares Wesen verstellte und mich kalt werden ließ. Doch halt! Ich kannte das. Irgendetwas lief schief. Nicht noch einmal! Plötzlich war alles wieder da. Alles, was gut mit deiner Schwester lief führte mir vor Augen, was du so lange hattest entbehren müssen. Der Schmerz darüber und die Schuldgefühle lagen mir schwer auf der Seele. Doch da war noch mehr. Ich spürte es immer klarer. Meine Wut, die in mir hochkocht, wenn du nervenzerreißend laut schreist, das ist keine Wut von heute. Sie ist alt…und mit einer schrecklichen Zerstörungskraft.
Diesmal sollte es anders werden beschloss ich. Wir suchten gleich Rat. Immer wieder. Doch es war nicht genug. Und so kommen wir an im Jetzt. Noch immer suchen wir verzweifelt nach Hilfe. Es gibt nur noch wenige Momente, in denen ich noch spüren kann, woran wir so lange gearbeitet haben: Liebe. Verbindung. Stattdessen fühle ich eine so starke Wut, einen Hass, dass es mich selbst erschreckt. Ich weiß, dass er nicht dir gilt. Du bist ein so wunderbares Geschöpf und tust, was du schon immer getan hast: uns zeigen, dass es dir nicht gut geht. Und zwar so lange und so laut, bis du gehört wirst und bekommst, was du brauchst: Liebe und Verbindung.
Es ist als wäre ich eine Figur in einer Geschichte, deren Verlauf ich kenne und doch nicht ändern kann. So viele Wege aus diesem Horror erwiesen sich schon als Sackgassen. Und immer wieder gewinnt die Hoffnungslosigkeit, die Erschöpfung, die Verzweiflung.
Viele Jahre Traumatherapie haben mich gelehrt: Ich bin die Redakteurin meiner eigenen Geschichte! Vieles kann ich nicht beeinflussen. Doch es liegt immer in meiner Hand zu entscheiden, wie ich auf das schaue, was mir die Handlung vor die Füße wirft. Ich bin kein hilfloses Opfer, ich kann die Story beeinflussen, egal wie ausweglos die Situation erscheint. Und so richte ich mich immer wieder auf. Und kämpfe. Für meine Kinder, die eine geborgene Kindheit verdient haben. Sowohl meine beiden Kleinen, die mich zur Mutter gemacht haben. Als auch meine inneren Kinder, die Liebe und Verbindung seit jeher so schmerzlich vermissen.
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