
Ich hatte es extrem schwer in meiner Rolle als Mutter anzukommen. Die Geburt meines ersten Kindes erlebte ich als sehr traumatisch. Ich fühlte mich erniedrigt, allein gelassen und hilflos. Ich erfuhr physische, wie psychische Gewalt. Ich bekam eine postpartale Depression. Mein Kind war die ersten Monate seines Lebens ein sogenanntes „Schreibaby“. Die Nachsorgehebamme nahm meine Not nicht ernst, erkannte meine Depression nicht. Unterstützung in dieser verletzlichen und unermesslich belastenden Zeit gab es keine.
Ich habe die vielen Hürden von damals gemeistert. Jede einzelne. Ich habe es geschafft mit Hilfe einer Psychotherapie die Depression zu überwinden. Ich habe es geschafft einen bedürfnisorientierten, liebevollen Umgang mit meinem Kind zu finden und eine Bindung zu ihm aufzubauen. Ich habe es geschafft ein wenig Unterstützung zu organisieren für mich und meine Familie. Und ich habe mich dem Schrecken der Geburt gestellt und mein Trauma bearbeitet, wieder mit therapeutischer Hilfe.
Als Mutter versagt
Und dennoch werde ich eines nicht los: die Schuldgefühle damals versagt zu haben. Denn die Folgen des so schwierigen Familienstarts begleiten mich bis heute. Sobald eines meiner Kinder intensiver schreit, geht mein Anspannungslevel binnen kürzester Zeit durch die Decke. Mein Puls rast, ich breche in Schweiß aus und bin emotional schnell wieder in der so prägenden Zeit von damals.
Auch bei meinem Kind merke ich immer wieder, wie unsicher er ist. Wie unsicher die Bindung ist, die so sehr gelitten hat unter dem Gewicht der Probleme, wie stark das Bedürfnis ist nach Sicherheit und Schutz. Gleichzeitig ist da auch eine riesige Wut (darüber nicht gesehen geworden zu sein?) und große Verzweiflung.
Schuldgefühle = Schuld?
Kognitiv habe ich nach Jahren der Therapie und eigener innerer Arbeit verstanden, dass Schuldgefühle nicht gleich zu setzen sind mit Schuld. Diese setzt voraus, dass ich frei wählen konnte, wie ich mich verhalte und Verständnis für meine (moralische) Verantwortung habe. Schuldgefühle entstehen, wenn ich etwas als falsch bewerte, basierend auf meiner Herkunft, Erziehung, Religion, Erfahrung, etc. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich auch wirklich schuld bin.
Schuldgefühl vs. Schuld: das Jackenbeispiel
Ein Beispiel aus meinem Alltag zeigt, dass Schuldgefühl und Schuld kein Synonym sind: Mein Sohn möchte ohne Jacke zum Kindergarten gehen, obwohl das Wetter – meiner Wahrnehmung nach – ziemlich kalt ist. Sein Wärmeempfinden unterscheidet sich von meinem, also darf er ohne losziehen und ich nehme sie mit, falls ihm doch später kalt wird. Unterwegs spüre ich die Blicke der anderen Mütter, deren Kinder in ihre Jacken eingemummelt sind. Beim Kindergarten angekommen zieht die Erzieherin eine Augenbraue hoch und macht eine spitze Bemerkung. 3, 2,1 -zack, bekomme ich Schuldgefühle. Hätte ich mich durchsetzen und auf das Tragen der Jacke bestehen sollen?
Jeder Mensch ist individuell in seinem Wärmeempfinden. Das ist auch bei Kindern schon so. Meine Wahrnehmung als Kind zählte für meine Bezugspersonen nicht, sobald sie von ihrer abwich. Und so fällt es mir heute schwer anzuerkennen, dass meine Kinder selbst erspüren können (und sollen), wann sie eine Jacke brauchen und wann nicht und ich lediglich dafür verantwortlich bin daran zu denken eine einzupacken für den Fall der Fälle. Kurzum: meine Schuldgefühle meinen Sohn ohne Jacke in den Kindergarten gebracht zu haben entspringen meinem erlernten Grundsatz, dass die Mutter entscheiden sollte, wie das Kind gekleidet ist und nicht das Kind. Tatsächlich aber kann mein Sohn das selbst und falls ihm kalt würde, hatte ich seine Jacke bereit. Tadaaa: Schuldgefühle ohne Schuld.
Mutter hat an allem Schuld?
Zurück zu meinen Schuldgefühlen als Mutter für mein Baby versagt zu haben – oder doch Schuld? Um herauszufinden, ob und in welchen Punkten ich vielleicht an etwas Schuld trage, stelle ich mir folgende Frage: Was von dem, das mir solche Schuldgefühle verursacht lag in meiner Verantwortung?
Ich habe mir die Klinik zur Entbindung sorgsam ausgesucht, die Voruntersuchungen gewissenhaft wahrgenommen und einen Geburtsvorbereitungskurs besucht. Der Behandlung im Kreißsaal war ich unter der Geburt hilflos ausgeliefert. Dem konnte ich mich nicht entziehen. Das war nicht meine Schuld.
Dass ich eine postpartale Depression bekam, habe ich mir nicht ausgesucht. Es gab nichts, das ich hätte tun können um das abzuwenden. Es ist eine Krankheit, unter der ich sehr gelitten habe. Das war nicht meine Schuld.
In das Leben mit einem Neugeborenen musste ich erst einmal reinwachsen. Die (mir damals noch nicht bewussten) eigenen Traumatisierungen aus der Kindheit, gekoppelt mit der postpartalen Depression haben das Allerwichtigste gekidnappt: Liebe und Verbindung. Dennoch habe ich mich um mein Baby gekümmert. Habe gestillt, getröstet, getragen, getragen, getragen (so viel und so lange getragen). Habe gesungen, gehüpft, getanzt, gewickelt, geschuckelt. Mir wurde so viel Blödsinn eingetrichtert (auch von Fachpersonen), aber trotzdem habe ich gefühlt, dass mein Kind etwas braucht und nicht aufgegeben, ehe ich herausgefunden habe was. Das war nicht meine Schuld.
Ich habe keine Schuld, aber Verantwortung
Das einzige von dem, das in meiner Verantwortung liegt ist einen Umgang damit zu finden. Der Kopf hat längst begriffen: Wie es damals gelaufen ist war unglücklich, aber nicht meine Schuld. Hätte ich mich falsch verhalten oder fahrlässig, dann könnte ich mich entschuldigen und versuchen es wieder gut zu machen. Aber so?
Ausgelöst wurde diese Schuldgefühl-Spirale übrigens neulich von einer Fachperson, die unsere Familie unterstützen soll. Er führte aus wie die „fehlende Mutter-Kind-Bindung“ von damals Ursache der Schwierigkeiten in der Beziehung zu meinem Kind sei. Sofort fühlte ich mich wieder schuldig und angeprangert, weil mit keinem Wort erwähnt wurde, was ich trotz der Widrigkeiten geschafft habe. Für mich, mein Kind und meine Familie. Was ich weiterhin tue. Jeden Tag. Klar ist es mein Job dies zu tun. Aber dennoch verdient es Anerkennung.
Anerkennung: der Schlüssel zum Glück?
Das ist es was mir immer wieder fehlt: Anerkennung. Aber vielleicht muss ich die mir selbst gegenüber zeigen. Ich möchte es nicht nur wissen, sondern auch fühlen können, dass ich nicht Schuld habe daran, dass ich in einer unheimlich wichtigen Zeit nicht so für mein Kind da sein konnte, wie er das gebraucht hätte. Dass ich Mitgefühl spüren kann für mein Kind, weil ich weiß, wie schlimm sich das für ihn anfühlen muss. Aber auch Mitgefühl mir selbst gegenüber, die diesen Mangel sowohl aus Kinder- als auch aus Muttersicht kennt. Und Anerkennung für das, was gut gelaufen ist. Was kein Zufall oder Umstand war, den ich hinnehmen musste. Sondern etwas, das ICH geschafft habe, weil ich es aktiv herbeigeführt habe.
Feststeht, ich möchte diese Schuldgefühle loslassen, denn sie ziehen mich runter, rauben mir die Kraft und lassen mich glauben ich sei nichts wert. Sie zerfleddern meine Nerven und machen meine Seele schwer und taub. Sie wecken in mir Wut, die Brücken einstürzen lässt. Schuldgefühle versperren mir die Sicht und fesseln meine Arme, erschweren jeden Schritt und frosten mein Herz.
Und darum lasse ich sie jetzt los. Stück für Stück.