
Nach dem Knall sitzt mein Sohn vor mir wie ein Häufchen Elend. Sein Kopf in den Händen vergraben, seine Schultern hängend als trüge er eine schwere Last auf ihnen. Leise und mit Wehmut in der Stimme lässt er mich wissen, wie traurig er ist: „…weil ich Fehler mache.“
Es trifft mich wie der Schlag. Ich darf keine Fehler machen. Ein so vertrauter Satz als wäre er schon immer ein Teil von mir. Und nun auch ein Teil meines Kindes? Ich versuche ihn spüren zu lassen, dass ich mitfühle, dass ich verstehe. Dann beginne ich ihm zu erklären, dass wir alle Fehler machen. Dass das normal ist. Sogar eine Gelegenheit zu lernen.
Fehler machen ist ganz normal und okay. Rational stimme ich dem voll und ganz zu. Emotional gehen alle Alarmglocken los. Als Kind war ich nach der Schule sehr oft bei meiner Oma. Wir haben gemeinsam gespielt, gequatscht und gelacht. Ich habe zu ihr aufgeschaut. Sie war für mich mein ein und alles, meine Verbündete, meine beste Freundin.
Fehler => Liebesentzug
Eines Tages habe ich irgendetwas angestellt, das sie sehr verärgert hat. Was es war, habe ich vergessen. Kein Mord, kein Brand, kein materiell signifikanter Schaden. Einfach eine Dummheit, die meine Oma jedoch dermaßen verärgert hat, dass sie mich tagelang ignoriert hat. Kein Blick, kein versöhnliches Wort, als wäre meine Existenz in ihrer Welt mit einem Schlag erloschen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hat sie dann doch wieder mit mir gesprochen, mir irgendwann auch wieder in die Augen gesehen. Aber egal wie viel Zeit vergangen ist, es wurde nie wieder so wie vorher. Ein Fehler hatte mich meine beste Freundin gekostet.
Wie kann ich also glauben, dass es nicht schlimm ist Fehler zu machen?
Jahrzehnte später fand ich mich am Tisch meines Onkels wieder. Die Stimmung war angespannt, Vorwürfe flogen hin und her. Als ich schließlich seine Aussage als Lüge bezeichnete, brach die Hölle los: erbost schleuderte er mir eine so ausfallende, beschämende und entwürdigende Tirade an Beschimpfungen und Drohungen an den Kopf, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Alles, so erklärte man mir hinterher, weil ich ihn als Lügner bezeichnet hätte, in seiner Heimat die schlimmste Form der Beleidigung. Ein absoluter Fehltritt im transkulturellen Dschungel, ein… was ist der Superlativ von Fettnäpfchen?
Fehler => Exil
Mein Versuch die Wogen zu glätten wurde abgeschmettert, ich in meiner Existenz von ihm seither ignoriert. Selbst am letzten Geburtstag meines Vaters auf dieser Erde war es für ihn undenkbar zeitgleich mit mir im selben Haus zu sein. Wegen eines einzigen Fehlers…
Ich darf keine Fehler machen.
Ich würde alles dafür geben meinem Sohn dieses Gefühl zu ersparen mit einer falschen Entscheidung eine Kettenreaktion ausgelöst zu haben, die in ihrer Wucht so unaufhaltsam und in ihrer Konsequenz so endgültig ist. Und die Angst davor, dass es nochmal passiert. Und der Versuch das zu vermeiden, sprich jeden Fehler zu vermeiden. Ein unmögliches Unterfangen.
Zugleich quält mich die Frage, wie oft er sich womöglich selbst schon so gefühlt haben mag mit mir? Wie oft hat er einfach nur durch normales kindliches Verhalten bei mir eine ähnliche Reaktion angestoßen und wie oft hat mir das den Blick und die Liebe für diesen kleinen Menschen verstellt!? Und wie oft hat er sich die Schuld dafür gegeben?