Die Kontaktabbruch-zur-Mutter-Spirale

„Was? Keinen Kontakt mehr zur Mutter?“ Ich höre das Entsetzen in ihrer Stimme: „Zu Ihrer eigenen Mutter? Kann es so etwas geben?“

Ich starre auf meine Hände, die gerade den Unterschenkel meiner Patientin in einen Kompressionsverband wickeln. Die sonst so unbeschwert wirkende, freundliche alte Dame hält bestürzt inne, während sie die Information verarbeitet, die sie gerade von mir bekommen hat. Nach einer ganzen Weile fügt sie hinzu: „Also ich finde es nicht gut, wenn Kinder keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern haben.“
Der Rest meines Besuches verläuft wie im Flug. Ehe ich mich versehe, sitze ich wieder im Auto, um zum nächsten Patienten zu fahren. Ich versuche die „Unterhaltung“ beiseite zu schieben, doch die Worte folgen mir noch tagelang.

Zweifel: War es das Richtige?

Zuerst wecken sie Zweifel: Habe ich damals alles versucht? Hätte es eine Alternative gegeben? Liegt es an mir? Bin ich einfach eine schlechte Tochter? Vielleicht habe ich es mir zu leicht gemacht vor fünf Jahren den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen. So etwas macht man schließlich nicht. Familien halten zusammen, egal was passiert. Dann rollt man eben mal mit den Augen innerlich, beißt sich auf die Lippen und regt sich anschließend beim Partner darüber auf wie unmöglich man seine Mutter fand.

Schuldgefühl: Wie konnte ich nur?

Und dann kommt das Schuldgefühl. Was habe ich meiner Mutter damit angetan? Ich bin undankbar. Ich habe unsere Familie zerrissen. Ich bin eine schlechte Tochter, eine furchtbare Schwester, ich bin nichts wert, sondern egoistisch und gemein. Wer sonst würde seiner eigenen Mutter offenbaren nun getrennte Wege gehen zu wollen. Den Kindern ihre Großmutter vorenthalten!? Sowas macht man nicht.

„Kann es sowas geben?“

Ja, verdammt, sowas gibt es. Und das hat seine Gründe. Die vielen Erinnerungen kehren zurück an Situationen, in denen ich von meiner Mutter gekränkt, verstoßen und gedemütigt wurde. Aber auch an die vielen Versuche von ihr gehört zu werden. Wie sehr hatte ich mir gewünscht mit ihr ins Gespräch zu kommen, um anzufangen all diese vielen Trümmer zwischen uns beiseite zu räumen. Doch statt Annäherung folgte eine Verletzung der nächsten. Irgendwann kam dann der Moment, in dem das Fass voll war. Als ich tief in mir spürte, dass es Zeit war mich zu entscheiden: bleiben und untergehen…oder gehen und leben.

Ich habe mich für den Kontaktabbruch entschieden, um mich und meine kleine Familie zu schützen. Bereut habe ich diesen Entschluss für keine Sekunde. Wie viel Energie frei wurde ohne die ständigen Attacken, das Schwere, das Zehrende in der Beziehung zu meiner Mutter. Und diese Energie hatte ich bitter nötig, denn es sollte noch ein weiter Weg sein – ist es noch weiterhin – um mich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zu befreien.

Schmerz: Was wäre wenn!?

Zuletzt kommt der Schmerz über das was war und die Trauer um das was fehlt. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit steigt meine Sehnsucht nach Verbundenheit und Nähe. Ich sehe um mich herum, wie Großeltern an der Haustür von ihren Enkeln bestürmt werden, der „Clan“ zusammenkommt und merke wie sehr es mir fehlt. Das Gefühl zu einem größeren Ganzen zu gehören, auch für meine Kinder.

Der Preis dafür wurde mir allerdings zu hoch. Meine Mutter hat ihn damals bezahlt im Hinblick auf ihre eigenen Eltern und leidet daran bis heute, auch wenn sie sich das nicht eingesteht. Mein Weg ist anders.
Immer wieder bekomme ich das Gefühl mich für den Bruch mit meiner Mutter rechtfertigen zu müssen. Vor anderen, aber auch vor mir selbst. Unzählige Male schon bin ich in der Spirale gelandet aus Zweifeln, Schuldgefühl, manchmal Wut, aber immer Schmerz und Trauer.

Zuversicht: Es geht voran!

Immerhin mischen sich Stück für Stück auch andere Emotionen dazu:
Stolz, es gegen allen Widerstand gewagt zu haben mich zu lösen. Meinen eigenen Weg zu finden und mich meinen inneren Dämonen zu stellen.
Mitgefühl – für meine Mutter, da ich nun selbst Mama bin und merke was für eine unendlich schwierige Aufgabe es ist Kinder beim Aufwachsen zu begleiten. Ganz besonders mit so schweren Altlasten im Gepäck. Weil ich weiß, dass sie das Beste gegeben hat, obwohl auch sie so viel missen musste als Kind.
Aber auch Mitgefühl mit mir, die ich jeden Tag mein Bestes gebe, immer wieder scheitere und am Ende nur hoffen kann, dass es für meine Kinder ausreicht.

Schließlich gesellt sich auch die Zuversicht immer öfter zum Gefühlscocktail. Dann kann ich sehen, wie weit ich schon gekommen bin auf meiner Reise. Was ich bereits gemeistert habe und dass vieles auch gut gelingt. Und das wachsende Vertrauen darauf, dass ich die Stärke besitze nicht aufzugeben. Für mich. Für meine Kinder, meine Familie.

Und irgendwann vielleicht auch wieder für dich, Mutter.

2 Kommentare zu „Die Kontaktabbruch-zur-Mutter-Spirale

  1. Ich kann deine Gefühle so gut nachvollziehen, auch wenn ich noch nicht so weit bin. Grade das fehlende Verständnis von außen, die Reaktionen, empfinde ich sehr oft als doppelt schmerzhaft. Auch dieser Wunsch wo dazu zu gehören spricht mir aus der Seele. Das tut mir Grade auch sehr weh.
    Ich freue mich sehr für dich zu lesen dass du erfolgreich aus dem System ausgebrochen bist ❤

    Gefällt 1 Person

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