In einer perfekten Welt würde ich diesen Brief so, oder so ähnlich, eines Tages in meinem Postkasten finden…
Liebe Tochter,
es hat lange gebraucht für mich diese Zeilen zu schreiben, darum hoffe ich aus tiefstem Herzen, dass sie dich noch rechtzeitig erreichen.
Es tut mir leid.
Lange Zeit konnte ich nicht sehen, was du meintest, wenn du versucht hast mit mir darüber zu sprechen, was dich so verletzt. Ich konnte nicht einmal sehen, dass es dich verletzt. Oder besser gesagt: dass ICH dich so verletze. Ich weiß du hast mir gesagt ich schaue zu sehr nur auf mich und meine Perspektive, dennoch möchte ich kurz erzählen, warum alles so gekommen ist. Das soll keine Entschuldigung sein für mein Verhalten und die vielen schlechten Entscheidungen in den letzten Jahren. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber ich habe Hoffnung, dass du mich so vielleicht ein kleines bisschen besser verstehen kannst.
Ich konnte nicht dorthin gucken, wo du immer wieder drauf gezeigt hast, weil es bedeutet hätte da hin zu gehen, wo es am meisten schmerzt. Und nicht zu wissen, ob ich diesen Schmerz werde aushalten können oder ob er mich auffressen würde. Ich hatte große Angst davor. Mein ganzes Leben lang schon habe ich mich vor diesem Schmerz versteckt. Ich habe ihn weg geschlossen. Ich habe ihn ignoriert. Ich habe ihn mit Alkohol und Essen versucht wegzudrängen. Er kam stets zurück. Und er wurde größer je länger ich ihm zu entkommen versuchte.
Als du gegangen bist, war ich unheimlich wütend auf dich. Ich war so blind in meiner Wut und in meinem Selbstmitleid viele Jahre. Ich habe mich damit abgelenkt vom eigentlichen Problem. Wie schon zuvor. Nach der Wut kam die Trauer. Meine Tochter zu verlieren war nie etwas, dass ich mir ausgemalt hatte für meine Zukunft. Und der Verlust wog schwer auf mir. Besonders an deinen Geburtstagen, wenn ich dir nicht wie gewohnt gratulieren und eine Rotkäppchentorte backen konnte, sondern allein durch dein Babyalbum geblättert habe und daran zurück dachte, wie dieser Tag mein Leben für immer verändert hatte.
Oder an Weihnachten. Wenn die vielen Erinnerungen an die Feste mit dir und deinem Bruder in der großen Leere meines Wohnzimmers hallten, wie in einer geräumten Lagerhalle. Nach der Trauer kam wieder die Wut. Aber diesmal nicht auf dich. Diesmal galt meine Wut mir selbst. Warum hatte ich das alles zugelassen? Warum konnte ich nicht über meinen Schatten springen und dir die Hand reichen, einen Neustart wagen, so wie ich es dir eigentlich zugesagt hatte!?
Und schließlich habe ich es gewagt dort hin zu schauen, wo alles hingedeutet hat. Zum ersten Mal in meinem Leben – und bedenke, ich bin nun schon das sechste Jahrzehnt auf dieser Erde- wurde mir klar, dass auch mir fehlt, was du beklagt hast. Auch ich hatte eine furchtbar unberechenbare Mutter, die durch ihre starken Depressionen nicht in der Lage war darauf zu schauen, was mein Bruder und ich brauchten. Die von ihrer eigenen Bedürftigkeit so konsumiert wurde, dass sie mir keine Mutter sein konnte. Kein sicherer Hafen, kein Wind unter meinen Flügeln, kein Quell an Geborgenheit und Fürsorge. Im Gegenteil, all das suchte sie bei mir. Sie konnte mich nie als die Person sehen, die ich eigentlich war. Und mich als solche lieben, bedingungslos. Stattdessen musste ich so werden wie sie mich haben wollte. Und so wurde der Anspruch ihr zu gefallen und daran zu scheitern meine Lebensgeschichte, selbst als erwachsene Frau mit eigenen Kindern.
Das Gefühl nie richtig zu sein hat auch mich depressiv werden lassen. Ich wollte das nie wahrhaben. Habe zwar laut prosaunt wie wichtig es ist psychische Leiden nicht zu stigmatisieren. Richtige und wichtige Worte. Nur leider galten sie nie für mich selbst, wie ich mir heute eingestehen muss. Schritt für Schritt wurde mir bewusst, dass ich ein riesiges Paket aus meiner Kindheit mit mir herum trage- unsagbar schwer und schlecht verpackt. Immer wieder sind Teile heraus gefallen und sind auf euch- deinen Bruder und dich- gefallen. Bürden, die viel zu schwer für eure Schultern waren. Das Schleppen dieses Pakets hat mich enorme Kraft gekostet, sodass nicht genug übrig blieb für euch. Für echte Nähe. Für einfühlsame Worte. Für tröstende Gesten. Liebevolle Wärme.
Ich habe wiederholt, was ich erlebt habe, ohne es selbst zu verstehen. Und nun stehe ich vor den Scherben unserer Beziehung und wünschte mir ich hätte es schon vorher sehen können. Es tut mir so furchtbar leid. Du musst wissen, dass ich immer nur das Beste für dich wollte. Du bist mir so wichtig, genau wie dein Bruder. Bitte entschuldige, dass ich dir nicht das geben konnte, was du gebraucht hättest. Denn du hättest es verdient, du bist ein so wunderbarer Mensch. Jeder Mensch verdient es um seiner selbst willen geliebt und geschätzt zu werden. Bedingungslos.
Ich verstehe, wenn du auch weiterhin keinen Kontakt zu mir haben willst. Ich bewundere dich sogar, dass du diesen Schritt gewagt hast. Wie anders wäre unser Leben wohl verlaufen, hätte ich damals den Mut gehabt meinen Eltern den Rücken zu zu kehren?
Vielleicht, wenn etwas Zeit vergangen ist, kannst du mir eine weitere Chance geben doch noch den Neustart in unserer Mutter-Tochter-Beziehung zu wagen, wie vor fünf Jahren besprochen. Ich bin jetzt bereit. Bereit für einen ehrlichen, offenen Austausch. Bereit zu hören, was du mir vielleicht noch zu sagen hast. Ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe. Egal, ob und wie du antwortest. Und ich werde dich immer lieben, denn du bist meine Tochter und das kann mir Gott sei Dank niemand nehmen.
Ich verspreche dir, dass ich dir in Zukunft eine bessere Mutter sein werde. Und es wäre eine große Ehre und Freude für mich, wenn ich deinen Kindern eine Großmutter sein dürfte. Sicherlich kann ich nicht von heute auf morgen alles ändern. Aber ich werde mein Bestes geben daran zu arbeiten, jeden Tag, Stück für Stück.
Bitte fühle dich nicht zu irgendetwas gedrängt. Wie Peter Maffay singt: „Alles im Leben hat seine Zeit.“
In Liebe,
deine Mutter
Ein Kommentar zu „Life as it should be…“